Ortsbindung und ihre gewaltsame Zerschlagung

Moltkestraße 38 + 40

In der Moltkestraße herrscht heute eine lebendige Alltags- und zum Teil Szenenatmosphäre: Kneipen, Läden und Cafés tragen zum abwechslungsreichen Straßenbild bei. Sie wurde ab 1872 von Norden nach Süden angelegt. Die Gebäude an der Einmündung zur Wilhelmstraße entstanden 1875/76.

In der Anfangszeit lebten viele Bewohner*innen nur für kurze Zeit im jeweiligen Haus. Dies spricht für eine große Dynamik der wachsenden Stadt im Hinblick auf Wohn- und Arbeitsstätten. Ein noch heute im Viertel bekannter Name kann dies verdeutlichen: Jakob Grether. Der Mechaniker hatte Ende 1860er Jahre eine Zinnwerkstätte in der Eisenbahnstraße übernommen und baute den Betrieb in der Folge zu einer Fabrik aus. Er lebte ab 1888 in der Moltkestraße 40, bis er 1900 sein neues Domizil neben dem 1873 gegründeten Gretherwerk in der Adlerstraße bezog.

Andere waren weniger er folgreich und verließen die Stadt wieder. Ihre Spuren verlieren sich ebenso wie die Lebenswege von Frauen,die sich aus den Quellen kaum rekonstruieren lassen, da sie in der Regel nur als Anhängsel ihrer Ehemänner Erwähnung fanden.

Neben Jakob Grether lebten 1880 ein Schreiner, ein Lehrer, ein Schuhmacher, ein Zementarbeiter, eine Witwe und ein Gipser in den Gebäuden. Wie damals auch, beherbergen sie heute nicht nur Wohn-, sondern auch Arbeitsräume.

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Von Glas und Holz

In der Nr. 40 befand sich in den 1880er Jahren eine Möbel- und Bettwarenhandlung. Der Hinterhof wurde als Lagerhaus genutzt. In der Moltkestraße 38 hatte seit 1926 der Schreiner und Glasermeister Adolf Stulz im Hof und Erdgeschoss seinen Arbeitsplatz. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg änderte Stulz seine Berufsbezeichnung und erweiterte sie auf „Glaserei, Schreinerei, Schiebefenster, Schaufensteranlagen und Reparaturen“. Mit den Jahren reduzierte er seinen Firmennamen auf „Glasermeister und Schreiner KG“. Die Veränderungen und Anpassungen des Betriebs zeigen, wie sich das Handwerk im Laufe der Zeit verändert hat und welche Dienstleistungen in der Zeit des Wiederaufbaus und des sogenannten Wirtschaftswunders besonders gefragt und ökonomisch lukrativ waren.

Der Innenhof wird seit 2016 nicht mehr als Arbeitsort genutzt, doch stehen dort noch immer Arbeitsgegenstände, die an das frühere Handwerk erinnern. Neben der ehemaligen Glaserei und Schreinerei befinden sich in der Nr. 38 heute Büroräume eines Architekten und einer Paartherapeutin.

Moltke-TV

Mit der Zunahme der Studierendenzahlen in Freiburg hat sich auch die Wohnsituation in der Moltkestraße Nr. 38 und 40 geändert. Heute befinden sich in den Gebäuden viele Wohngemeinschaften. Zwar erinnert der Innenhof noch an altes Handwerk, jedoch zeigen sich in ihm auch Spuren der Aneignung und des sozialen Lebens der Bewohner*innen. An der Fassade einer Terrasse im Innenhof befindet sich der Schriftzug MoltkeTV. Darüber ist ein Rahmen an die Wand gemalt – eine provisorische Leinwand, auf die Filme projiziert werden können. Hier kamen und kommen Menschen für Kino und Fernsehabende zusammen. Die Benennung der Leinwand lässt darauf schließen, dass sich die Bewohner*innen mit dem Haus und der Straße trotz häufiger Wechsel stark identifizieren. Dies ist auch nebenan, in der Hausnummer 40 der Fall. Dort steht in einer der WG-Küchen in großer geschwungener Schrift: Moltke WG.

Wohnhaft in der Moltkestraße, ermordet in Auschwitz

Der langfristige Wandel von Wohnen und Gewerbe ist nur eine Seite in der Geschichte der beiden Gebäude. Die andere steht beispielhaft für die barbarische Auslöschung jüdischen Lebens im Quartier. 1916 zog die jüdische Familie Heilbrunner von der Hugstätterstraße in den zweiten Stock der Moltkestraße 40. Die Eltern Lina (geb. 1883) und Eduard Heilbrunner wohnten mit ihren Kindern Rosl (geb. 1912) und Julius (geb. 1921) sowie dem Großvater Abraham Levi bis 1940 im Haus. 1930 begann Rosl ihre Arbeit als Rechtsanwaltsgehilfin. Schon drei Jahre später wurde sie im Zuge des sogenannten Arierparagraphen wegen ihres jüdischen Glaubens entlassen. Aufgrund der Herabsetzung in allen Lebensbereichen wanderte Rosl nach Spanien aus. Ihr kleiner Bruder Julius bekam mit 17 Jahren, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Schließung der Grenzen, ein Visum für die USA. Lina und Eduard Heilbrunner sowie ihr Vater Abraham Levi wurden dagegen am 22. Oktober 1940 nach Gurs (Südwestfrankreich) und später in das Konzentrationslager Récébédou (bei Toulouse) deportiert. Abraham Levi wurde bereits dort ermordet. Seine Tochter Lina wurde zusammen mit ihrem Mann zwei weitere Male deportiert. Sie kamen nach Les Milles (Südostfrankreich) und 1942 nach Auschwitz. Ihre Stolpersteine wurden im Juli und Oktober 2003 bzw. im Januar 2004 in den Bürgersteig der Moltkestraße eingelassen. An die verzweifelten Versuche von Lina und Eduard, noch rechtzeitig das Land zu verlassen, und an die an ihnen begangenen Verbrechen erinnert auch das 2019 auf deutsch erschienene Buch Das Vermächtnis der sieben Schachteln. Es wurde von der in Barcelona lebenden Tochter Rosls und Enkelin von Lina und Edurad Heilbrunner, Dory Sontheimer, verfasst.