„Denkmuster und Glaubenssätze zeigen […] auf individuellste und unterschiedlichste Weise das zugefügte Leid beziehungsweise die Selbststrafung der Akteur*innen. Es sind Gedanken, die sich in Sprache entfalten und die Akteur*innen demnach mit sich selbst aushandeln.“ 1

Lena Buß

 Das Gedanken-Gericht

Über das Verhältnis von Selbststrafung und Normvorstellungen

„Ich bin einfach zu dumm“, „Ich kann das nicht“. Diese Sätze sagte ich zu mir selbst, als ich vergeblich versuchte ein Loch in meinem Pullover zu flicken. Mir gingen weitere Gedanken durch den Kopf wie: „Ich bin eine Frau und kann nicht nähen?“ Bei näherer Betrachtung fielen mir nicht nur die selbststrafenden Sätze auf, sondern auch, dass ich gewisse Überzeugungen hatte, die mir aufzeigten, was ich angeblich können sollte. 

In meinem Forschungsprojekt beschäftigte ich mich mit gedanklicher Selbststrafung. Dabei ging es mir einerseits um die beschriebenen Sätze, die Akteur*innen zu sich selbst sagen und sich damit Leid zufügen, andererseits um das Verhältnis von Selbststrafung und der Abweichung von gesellschaftlichen Norm- und Wertvorstellungen.

Um mich der Thematik kulturanthropologisch anzunähern, führte ich qualitative Interviews. Ich bin von einem Strafbegriff ausgegangen, der sich in Form von Leid als unbemerkter Akt und nicht in Form einer bewussten (körperlichen) Selbstbestrafung zeigt. Dabei bezog ich die selbststrafenden Praktiken auf Aspekte einer heutigen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft. Konkurrenz, Vergleich, Bewertung und Anerkennung stehen mit der Bekräftigung bzw. der Abweichung von Norm- und Wertorientierungen in Zusammenhang. Ob und wie sich Akteur*innen letztlich selbst strafen hängt davon ab, wie sie sich selbst innerhalb gesellschaftlichen Normdimensionen bewerten.

1 Buß, Lena: Das Gedanken-Gericht. Über das Verhältnis von Selbststrafung und Normvorstellungen. In: Sieferle, Barbara (Hg.): Strafen. Kulturanthropologische Perspektiven (= Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, 5). Münster 2021, S. 75f.

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