Schwieriges Erbe - Prekäre Provenienz

Die Herkunft von kolonialen Objekten: Eine Suche in Archiven

„Was heißt es, heute die Kolonialzeit und den Kolonialismus darzustellen?“ – Mit dieser Frage beschäftigte sich das Kooperationsseminar Schwieriges Erbe: Kolonialzeitliche Sammlungen heute der Empirischen Kulturwissenschaft und der Geschichtsdidaktik im Wintersemester 2021/22 unter der Leitung von Thomas Thiemeyer und Bernd-Stefan Grewe. Immer wieder kamen wir im Seminar zu dem Schluss, dass Provenienzforschung die Basis für einen nachhaltigen und verantwortungsbewussten Umgang mit kolonialen Sammlungen ist.

Aber was genau ist Provenienzforschung? Was beinhaltet sie, wie kann sie nachhaltig sein und wie wird Provenienzforschung praktisch umgesetzt? Diese Fragen haben wir, die zwei angehenden Empirische Kulturwissenschaftlerinnen Antonia Schnell und Karina Wasitschek, zum Anlass genommen, um uns intensiver mit Provenienzforschung direkt vor unserer Haustür zu beschäftigen. Für diesen Blogbeitrag haben uns die Kunsthistorikerin Dr. Fabienne Huguenin und die Afrikawissenschaftlerin Dr. des. Annika Vosseler, die am Museum der Universität Tübingen (MUT) als Provenienzforscherinnen angestellt sind, erzählt, wie sich ihre alltägliche Arbeit gestaltet: Ein Blick hinter die Kulissen, in Keller, Kisten, Dachböden und Archive der Universität Tübingen.

Die Provenienzforschung fragt danach, wo Objekte herkommen (lat. provenire = herkommen). Wir greifen auf Gesa Grimme zurück, die für das Projekt „Schwieriges Erbe“ des Stuttgarter Linden-Museums die Objektherkünfte dreier Sammlungsbestände (Kamerun, Namibia, Bismarck-Archipel) erforschte. Sie definiert das in ihrem Abschlussbericht so: „Als Provenienzforschung wird die Auseinandersetzung mit der Herkunft von Sammlungsobjekten und deren Dokumentation bezeichnet. Recherchiert werden dabei Erwerbsumstände, Vorbesitzer*innen und frühere Sammlungszugehörigkeiten“ (Grimme 2018: 4). Der Schwerpunkt der Provenienzforschung lag seit den Washingtoner Prinzipien aus dem Jahr 1998 vor allem auf NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut. Mit dieser Selbstverpflichtung, die von 44 Staaten unterzeichnet wurde, sollten unter anderem Recherchen zur Herkunft von Objekten befördert und faire und gerechte Lösungen gesucht werden (vgl. Grimme 2018: 4 f.).

Bild 2: löchriges Dokument:
Alte Dokumente sind oft unvollständig und erschweren die Provenienzforschung (Quelle)

Objekte aus allen Kontinenten sind aber nicht vom Himmel in europäische Museen gefallen. Sammlungen entstanden in bestimmten historischen, globalen und gesellschaftlichen Kontexten. Ein Großteil der Sammlungen wurden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zusammengetragen, „in der Hochphase der europäischen Weltaneignung“ (Grimme 2018: 6). Außerdem legitimierten Museen nicht nur mit ihren Sammlungen, sondern auch als Wissensinstitutionen, in denen geforscht und Vorträge gehalten wurden, die Hierarchie zwischen ‚zivilisierten Weißen‘ und ‚primitiven Naturvölkern‘ (vgl. Grimme 2018: 7f.). Kolonialismus und museale Sammlungen sind also untrennbar verflochten. Der Prozess der Musealisierung und die möglichst dichte Kontextualisierung sind für die so verstandene Provenienzforschung zentrale Aspekte. Daraus zieht Grimme folgenden Schluss: „Vor diesem Hintergrund bedeutet die Provenienzforschung zu Sammlungen und Objekten aus kolonialen Kontexten nicht allein die Überprüfung der Erwerbsumstände auf ihre Unrechtmäßigkeit, sondern ebenso die Auseinandersetzung mit dem Spektrum kolonialer Gewalt, mit dem die Objekte behaftet sind“ (Grimme 2018: 8).

Fabienne Huguenin und Annika Vosseler beschreiben, wie viele Sammlungen theoretisch zu untersuchen wären – allein können sie diese gar nicht stemmen. So Vosseler: „Wir fangen eben erst an, uns mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Gerade an der Universität Tübingen mit ihren über 70 Sammlungen und 130 Teilsammlungen gibt es großes Potenzial, es gibt viele Objekte, die unter teilweise ungeklärten Umständen in die Sammlungen kamen.“  Und Huguenin ergänzt: „Also ich mache mir wenig Sorgen, dass wir irgendwann nichts mehr zu tun haben. Im Gegenteil – da steht noch richtig viel Arbeit an.“

Dabei zeigen sich die Zusammenhänge erst durch die Zusammenarbeit und Kooperationen europäischer und afrikanischer Wissenschaftler*innen. An manchen Tagen finde man nur eine einzige Information, die „Frustration muss man aushalten können.“ Die Forscherinnen lesen sich durch verschiedenes Material, finden Details und auf einmal macht es ‚Klick‘: „Ja, das ist schon so ein richtiges Puzzle.“ Man dürfe aber keine Scheu haben, Lücken in der Provenienzkette zu publizieren: „Dann wird das öffentlich gemacht, mit der Hoffnung, dass jemand anders drüber stolpert. Gerade in der Provenienzforschung ist der Zusammenhalt sehr groß. Und es ist sehr angenehm, dass man dann auch an die anderen denkt und sich zuarbeitet: ‚Du, ich habe da was, das passt auch zu deinem Projekt.‘ Nur so funktioniert es, weil die Aufgabe sonst einfach viel zu umfangreich und kleinteilig ist.“

Nicht nur gilt es, die richtigen Unterlagen zu finden. Auch müssen sie entziffert und mit den richtigen Objekten und weiteren Unterlagen in Verbindung gebracht werden. © MUT | K. Schurr.

Das MUT ist federführend beim Verbundprojekt „Prekäre Provenienz – Menschliche Überreste aus dem kolonialen Erbe Afrikas vor 1919 in wissenschaftlichen Sammlungen Baden-Württembergs“. Wenn Vosseler sagt „wir fangen eben erst an“, dann ist das durchaus wörtlich zu verstehen, denn das Projekt begann erst am 01. September 2021 (vgl. Prekäre Provenienz). Der Fokus dieses Projekts liegt auf ‚human remains‘. „Menschliche Überreste gehören zum wohl sensibelsten Bereich von Sammlungen. Es gibt noch andere sensible Objekte, wie religiöse oder heilige Objekte oder solche, deren Erwerb und Transfer in die Sammlung unrechtmäßig war. Sensibel meint, dass die Aufbewahrung, das Zeigen und Beforschen im Museum besonderes Taktgefühl verlangt. Aber menschliche Überreste aus Unrechtskontexten wie der Kolonialzeit haben in unseren Regalen nichts zu suchen“, sagt Huguenin. Genau das sei auch von der Politik gefordert. Laut dem Eckpunktepapier, das von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden aufgesetzt wurde, sind „menschliche Überreste absolut prioritär zu behandeln“, ergänzt Huguenin. Die Rückführung menschlicher Überreste ist von der Politik indiskutabel festgelegt. Bezüglich anderer Kulturgüter muss aus unterschiedlichsten Gründen noch mehr recherchiert, geklärt und geprüft werden, um zu fairen und gerechten Lösungen zu gelangen (vgl. Kultusministerkonferenz 2019).

Netz-Werken, wie die Spinnen

Das Verbundprojekt besteht aus verschiedenen Projektpartner*innen. Das sind die Humanosteologische Sammlung der Universität Tübingen, das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart, das Staatliche Museum für Naturkunde Karlsruhe und das Linden-Museum Stuttgart. Assoziierte Partner sind das Universitätsarchiv, das Uniseum und das Institut für Anthropologie der Universität Freiburg, sowie das Arnold-Bergstraesser-Institut. Diese Projektpartner*innen vernetzen sich untereinander und bleiben im stetigen Kontakt. Diese Vernetzungsarbeit ist dabei ein Netzwerk 2.0: „Unsere Recherchen zeigen, dass die verschiedenen Institute oder Institutionen sehr eng miteinander verbunden waren. Das waren keine isolierten Akteur*innen, die alle vor sich hingearbeitet haben, sondern sie waren durchaus im Austausch. Die historischen Netzwerke entsprechen letzten Endes fast denen, die wir auch heute versuchen zu etablieren. Ziel des Projektes ist es auch aufzuzeigen, dass es keine isolierten Akteur*innen mit (ausschließlich) persönlicher Agenda gab, sondern dass letzten Endes ein gesamtgesellschaftliches Interesse verfolgt wurde“, sagt Vosseler. Aber auch innerhalb der einzelnen Universitäten wurden Objekte weitergegeben. Frau Huguenin vergleicht diese Arbeit mit einem Spinnennetz: „Wir gehen über alles drüber und vernetzen das wieder. Durch das Verknüpfen früherer und heutiger Vernetzungen erfahren wir sehr viel über die gesamte Geschichte der Institutionen sowie ihrer Akteur*innen.“

Provenienzforschung braucht Netzwerkarbeit (Quelle)
Provenienzforschung braucht Netzwerkarbeit (Quelle)

Ein Beispiel dafür ist Augustin Krämer. Als Marinearzt lieferte er dem Linden-Museum (damals das Handelsgeografische Museum Stuttgart) die zweitgrößte Sammlung von Objekten aus dem Bismarck-Archipel in Papua-Neuguinea (vgl. Grimme 2018: 44). 1911 wurde Krämer auf Graf Karl von Lindens Wunsch dessen Nachfolger als Museumsdirektor. Unter seiner Führung stieg der Bestand an „menschlichen Überresten“ im Museum stark an. Zu von Lindens Zeiten erhielt diese das heutige Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart (vgl. Grimme 2018: 55). 1919 gründete Krämer das Völkerkundliche Institut in Tübingen, die heutige Ethnologie (vgl. Mönter 2010: 23).  Nicht nur das zeigt, wie viel auch die Universität Tübingen mit kolonialen Strukturen zu tun hatte und von ihnen profitierte. „Und das zu rekonstruieren ist eine ganz schöne Herausforderung. Denn in vielen Einrichtungen gibt es Lücken in den Eingangs- und Inventarbüchern – wenn sie überhaupt noch vorhanden sind –, die sich heute nicht ohne weiteres schließen lassen“, führt Vosseler aus.

Archivwühlmäuse auf der Suche nach Schnipselchen

Und um diese Probleme aufzuarbeiten, die Lücken im Material zu füllen und insgesamt die Herkunftsgeschichte von Objekten aufzuarbeiten, arbeiten die beiden in Archiven und interessieren sich für jedes noch so kleine Schnipselchen: „Wir arbeiten mit alten Papieren, für uns sind die sehr relevant“, so Vosseler. Aber genau das sei auch die große Schwierigkeit: „Wir beißen uns fast die Zähne daran aus, Papiere und Unterlagen zu finden, in denen steht, woher die menschlichen Überreste stammen“, führt Huguenin dies aus. Sie seien eben „Archivwühlmäuse.“

Für diese Wühlarbeit muss jedoch eine Vertrauensbasis aufgebaut werden. Die Forscherinnen stoßen oft auf anfängliche Skepsis: „Also, ich kann verstehen, dass manchmal gewisse Bedenken bestehen. Aber wir erläutern die Bedeutung der Aufarbeitung und die positiven Seiten“, sagt Huguenin. „Das hat man bei den Firmen gesehen, die in 1980er-Jahren ihre NS-Zeit aufgearbeitet haben. Einige andere haben sich weggeduckt, vielleicht aus Angst vor möglicher negativer Presse. Aber es zeigte sich damals: Diejenigen, die sich ihrer Firmengeschichte gestellt haben, wurden äußerst positiv wahrgenommen. Sie haben den Mut gezeigt, sich mit einem schwierigen Thema auseinanderzusetzen und das wurde anerkannt.“

Grundsätzlich sei jedoch von allen Seiten ein Interesse an Provenienzforschung vorhanden. Auch von Seiten der Politik gebe es aktuell gute Rückendeckung. Wenn es jedoch tatsächlich darum geht, nachzuforschen und Schränke zu öffnen, „dann werden manche Leute etwas unsicher“, berichtet Huguenin.

Das zeigt, wie wenig die breite Öffentlichkeit über Provenienzforschung weiß: Es geht darum, historische Zusammenhänge zu rekonstruieren. Außerdem werden Bedenken geäußert bezüglich der Auswirkungen, die mögliche Funde nach sich ziehen könnten. Diesen Aspekt berücksichtigen die Provenienzforscherinnen in ihrer alltäglichen Arbeit mit Verbundspartner*innen aus verschiedenen Fachdisziplinen: „Wir machen das wirklich so, dass wir regelmäßig hingehen, die Ängste und Bedenken ernst nehmen und schrittweise unser Vorgehen erklären und erläutern“, sagt Huguenin. Vosseler ergänzt: „Das heißt, man muss sie für das Projekt gewinnen und die Arbeitsweise von Historiker*innen erklären, damit verständlich wird, weshalb wir uns für bestimmte Orte, Kisten, Bücher etc. interessieren, die für andere Disziplinen auf den ersten Blick oft nicht relevant erscheinen.“ Huguenin bringt es auf den Punkt: „Und was ihnen oftmals völlig unwichtig erscheint, ist dann plötzlich ungemein wichtig für unsere Recherchen.“

Digitalisierung und Transparenz, um allen gerecht zu werden

Für diese ganze Arbeit ist die Digitalisierung von großer Bedeutung, um die im Eckpunktepapier geforderte Transparenz und den Zugang zu ermöglichen. „Da gibt es unterschiedliche Stufen in der Zugänglichmachung“, sagt Vosseler. „Nicht nur für die Herkunftsgesellschaften, sondern auch für die breite Öffentlichkeit. Wir müssen allen gerecht werden.“ Huguenin spricht von einem „Spagat“, den man oft machen müsse. „Ob man den immer hinbekommt?“ Schließlich sind die Digitalisierungsarbeiten, die der Transparenz und der Zugänglichmachung dienen sollen, nicht damit abgeschlossen, dass alles online gestellt wird. Die Aufgaben sind wesentlich komplexer.

Die Daten müssen für eine nachhaltige Aufarbeitung langzeitarchiviert und sowohl digital als auch im Print veröffentlicht werden. „Aber wenn es um Gesellschaften in einem Gebiet geht, wo der Zugang zu WLAN oder Internet nicht gegeben ist, muss man eben überlegen, wie man die Daten dennoch zugänglich machen kann“, gibt Vosseler zu bedenken. Auch mit digitalisierten Akten kann nicht so einfach gearbeitet werden, da sie oftmals in Kurrentschrift, also in einer alten Schreibschrift geschrieben sind. Und das kann selbst in Deutschland fast niemand mehr lesen. Auch bei einer Transkription in eine Textdatei „ist trotzdem noch eine Sprachbarriere vorhanden, das heißt, man müsste die deutschen Texte erst noch in andere Sprachen übersetzen. Und die digitalisierten Unterlagen müssen dann noch in unterschiedlichen Sprachen verschlagwortet werden, damit die Personen, die sich damit befassen, wissen, wonach sie suchen können“, führt Vosseler aus. Bei so vielen Teilaufgaben wird uns nur vom Zuhören schwindelig. Und das ist noch nicht alles: „Die Metadatenerfassung ist harte Arbeit“, ergänzt Huguenin. So kann ein Thesaurus nur in Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften erstellt werden, weil diese „die richtigen Begriffe für die Objekte haben.“

Darüber hinaus soll die Website des MUT so inklusiv wie möglich sein: Sie wird in drei Sprachen und in einfache Sprache übersetzt. Vorlesefunktion und Rot-Grün-Blindheit sollen nach wie vor berücksichtig werden. „Sonst ist das wieder so ein Elitenthema – und das geht nicht.“ Der Öffentlichkeit sollte alles so gut wie möglich zugänglich werden. Dass das ein Heidenaufwand ist, sehen wir an den ganzen Überlegungen, die sich die Forscherinnen allein schon zur Barrierefreiheit der Website gemacht haben. So detailreiche Arbeit braucht Zeit – und Geld.

Auch die Provenienzforschung an der Universität Tübingen ist geprägt von den prekären Strukturen, in denen wissenschaftliche Arbeit stattfindet. Vieles ist befristet, projektbasiert, flexibel. Finanziell gefördert wird das Projekt ‚Prekäre Provenienz‘ durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und aus Mitteln des baden-württembergischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Es handelt sich jedoch nur um eine „Anschubfinanzierung“, sagt Huguenin, „danach soll das eigentlich in die Verstetigung übergehen.“ Museen und Sammlungen sollen so animiert werden, Provenienzforschung selbst als „wichtigen Teil anzuerkennen.“ Das heißt, dass nach einer einmaligen Finanzierung erstmal Schluss ist „und dann soll es im Idealfall aufgrund der Brisanz des Themas mithilfe eigener Mittel weitergehen.“ Das sorgt für Unsicherheiten bei den Projektmitarbeiterinnen. Gute Forschung braucht Zeit und akkumuliertes Wissen – wie Vosseler es haben wird, wenn die Finanzierung ihrer Stelle nach drei Jahren ausläuft, worauf Huguenin hinweist: „Man muss sich überlegen, wie viel Wissen sie dann hat, dann kann man sie ja nicht gehen lassen. Denn dann fängt es doch erst richtig an mit der Forschung!“ Ein Paradox, dass sie dann trotzdem um ihre Stelle bangen muss. Vosseler ergänzt: „Es ist ja auch die Frage, inwiefern das Thema in ein paar Jahren noch von Relevanz ist. Vielleicht haben wir Glück und jetzt ist so ein Momentum, in dem viele Gelder für diesen Bereich zugänglich sind oder zugänglich gemacht werden. Jetzt muss man durch gute Arbeit zeigen, dass sich das lohnt. Und dass wir auch nur so unsere koloniale Vergangenheit fundiert aufarbeiten können, wenn man entsprechende Stellen schafft.“

Die problematischen Aspekte einer Projektfinanzierung zeigen sich insgesamt im Feld der Provenienzforschung. Huguenin fordert hier eine grundsätzliche Verankerung in vorhandenen Strukturen: „Es müsste zumindest ein paar festangestellte Provenienzforscher*innen geben, die strategisch gut platziert sind. Denn sie bauen mit den Jahren eine sehr fundierte Expertise auf, die für die einzelnen Sammlungen und Institutionen und für die Aufarbeitung unserer Geschichte essenziell sind. Man muss immer wieder erklären, dass das Thema nicht in zwei, drei Jahren abgeschlossen ist. Das haben die früheren Projekte im Bereich der NS-Zeit bereits mehr als deutlich gezeigt. Es handelt sich um eine Daueraufgabe, die zu jedem Museum und jeder Sammlung gehört.“

Es ist also noch viel Arbeit notwendig, um die Aufarbeitung der Provenienzen zu ermöglichen: Unsichtbare Arbeit, um das Sichtbarmachen zu erreichen. „Schwieriges Erbe – Prekäre Provenienz“ bezieht sich nicht nur auf die Arbeit mit kolonialen Objekten, sondern auch auf die Provenienzforschung an sich, die zugleich schwierig und prekär ist.

Das Projekt fokussiert ‚human remains‘, aber in den Kisten und Kellern, auf Dachböden und in Archiven Tübingens befinden sich weitaus mehr koloniale Objekte. Vosseler fasst zusammen: „Die Sammelwut der Europäer kannte eben keine Grenzen.“ Das betreffe jedoch nicht nur Objekte, die aufgrund kolonialer Unrechtskontexte in Sammlungen gelangt sind. Um sämtliche Unrechtskontexte abzudecken, müsse man laut Huguenin bis ins 16. Jahrhundert zurückgehen. Bei der europäischen Expansion sei eigentlich fast immer von Unrechtskontexten auszugehen. Dies deckt sich auch mit dem, was die Kunsthistoriker*innen Isabelle Dolezalek, Bénédicte Savoy und Roberts Skwirblies in ihrem Buch Beute. Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe aufzeigen – wobei diese noch weitergehen: Objekte aus Unrechtskontexten lassen sich bis in die Antike verfolgen. Diese Fülle an Sammlungen und Herkunftsgeschichten, die aufgearbeitet werden müssen, um nachhaltig mit Unrechtskontexten und der europäischen ‚Höherstellung‘ umzugehen, verdeutlicht, wie groß der Bedarf für entfristete Provenienzforschung ist.

Auf staubigen Dachböden verbergen sich oft koloniale Objekte (Quelle).]

Wir sehen: Provenienzforschung ist ein komplizierter und verantwortungsvoller Prozess, der nur mithilfe von Expertise funktioniert. Was sollen dann aber Privatpersonen machen, die auf dem Dachboden koloniale Objekte finden? Denn das können unauffällige Alltagsgegenstände aus Gebieten ehemaliger Kolonien sein: Tropenhelme, Broschen oder auch einfache Gebrauchsgegenstände wie Kochutensilien. Sollten Privatpersonen diese auf eigene Faust recherchieren? Die beiden Provenienzforscherinnen schätzen es für Lai*innen als sehr schwierig ein, selbst Nachforschungen zu betreiben. Wenn man ein Objekt nicht eingrenzen könne, sei es mühsam, einen ersten Ansatzpunkt zu finden. Sie empfehlen daher, sich direkt an Expert*innen zu wenden. Teilweise würden Museen oder Auktionshäuser solch einen Service anbieten. Und wenn kein solches Angebot vor Ort verfügbar ist? „Wir sind ja auch noch da. Man kann uns gerne um Rat fragen“, sagt Huguenin. Vosseler stimmt zu: „Es gibt ja die Expert*innen dafür, dass man sie fragt.“ Und für diese Expert*innen wird die Arbeit in den nächsten Jahren definitiv nicht weniger – unabhängig davon, ob noch weitere Gelder für Provenienzforschung zur Verfügung gestellt werden oder nicht.

Am MUT wird zurzeit sehr intensiv, aber mit kleiner Besetzung der Bereich der Provenienzforschung aufgebaut. Genau deshalb braucht dieses Thema mehr Aufmerksamkeit, mehr Arbeitsstellen, mehr Auseinandersetzung mit den eigenen historischen Verfehlungen, die sich andernfalls verstetigen würden. Wissenschaft ist nicht dazu da, Wissen in Kellern einzuschließen; Wissenschaft ist dazu da, virulente Themen so gründlich wie möglich ans Licht zu bringen. Wir schließen mit Huguenins Worten: „Deshalb brauchen Provenienzforscher*innen Festanstellungen, überall.“

Deutsches Zentrum Kulturgutverluste. URL: https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Start/Index.html;jsessionid=8874611FD426A867F4BC82232C655597.m0 (20.05.2022).

Dolezalek, Isabelle/Savoy, Bénédicte/Skwirblies, Robert: Beute. Eine Anthologie zu Kunstraub und Kulturerbe. Berlin 2021.

Grimme, Gesa: Provenienzforschung im Projekt „Schwieriges Erbe: Zum Umgang mit kolonialzeitlichen Objekten in ethnologischen Museen“. Abschlussbericht. Stuttgart 2018. URL: https://www.lindenmuseum.de/fileadmin/Dokumente/SchwierigesErbe_Provenienzforschung_Abschlussbericht.pdf (15.07.2022).

Kultusministerkonferenz: Erste Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände. 13.03.2019. URL: https://www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/eckpunkte-zum-umgang-mit-sammlungsgut-aus-kolonialen-kontexten.html (20.05.2022).

Mönter, Sven: Dr. Augustin Krämer: a German ethnologist in the Pacific. Auckland 2010. URL: http://hdl.handle.net/2292/6050 (20.05.2022).

Prekäre Provenienz. Projekt: „Prekäre Provenienz – Menschliche Überreste aus dem kolonialen Erbe Afrikas vor 1919 in wissenschaftlichen Sammlungen Baden – Württembergs“. URL: https://www.unimuseum.uni-tuebingen.de/index.php?id=504 (20.05.2022).

Savoy, Bénédicte: Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage. München 2021.

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